Aus meinen Erinnerungen: So tun als ob

Über die Liebe, das Leben, die Arbeit. Und über Parkinson.

 

Die Tanzlehrerin begrüßte mich freundlich. Sie vermied, so gut es ging, den behutsamen, mitleidigen Unterton, mit dem man zu Behinderten spricht. Schön, dass du gekommen bist, Stefan. Ich hatte mich per E-Mail zu diesem Tanzkurs für Menschen mit und ohne Behinderung im Dezember 2024 angemeldet. Die durchtrainierte Tänzerin machte eine Übung vor und erklärte, jeder bestimme selbst, was er wie mitmachen wolle. Ich wusste noch nicht, wozu ich in der Lage sein würde. Die Anfahrt mit S- und U-Bahn war nicht lang gewesen. Aber anstrengend genug, um mich unter Stress zu setzen. Vielleicht zeigte die Dopaminpille deshalb nicht die gewünschte Wirkung. Wie auch immer: mein Körper war angespannt, meine Hände zitterten, ich spürte die Starre meines Gesichts, während ich mich zwang, möglichst aufrecht zu stehen und den Mund zu schließen. (...) Mit einer psychisch kranken Frau, die Stimmen hörte und einen Großteil ihres Lebens in Psychiatrien verbrachte, blieb ich in Kontakt. Ulrike wurde eine gute Freundin.

Ihr erzählte ich von meiner ersten krankengymnastischen Behandlung, als mich die Therapeutin im betulichen Ton lobte: Da freut sich die Hand. Ich hatte mich angestrengt für eine Bewegung, auf deren Ausführung ich als Gesunder keinen Gedanken verschwendete. Ich sah keinen Grund, mich über den Verlust meiner Beweglichkeit hinwegzutäuschen. Ulrike machte mich darauf aufmerksam, dass sie die Bemerkung der Therapeutin positiv aufgenommen hätte. Sie hätte als Ansporn verbucht, was für mich kränkend war.

Mir fiel eine Musiktherapiestunde in der Hamburger Universitätsklinik ein. Schon 20 Minuten Tanzen zu vertrauten Melodien reaktiviere die körpereigene Produktion von Dopamin, versprach der Therapeut. Wir bewegten uns mehr oder weniger unsicher durch den Raum. Ich hatte mir sogar ein Tamburin in die Hand drücken lassen, auf das ich einschlug wie ein Tanzbär. Plötzlich begann eine Teilnehmerin heftig zu weinen. Statt sich darüber zu freuen, dass sie noch zu I can´t get no satisfaction tanzen konnte, erschrak sie über die Verluste, die ihr das Alter und die Krankheit zumuteten. Ich verstand sie voll und ganz. Dem Therapeuten fiel die Frau nicht auf. Jedenfalls ignorierte er sie. Ihre Trauer passte nicht in sein Konzept. Für ihn waren wir Kranke, denen er das Leben angenehmer machen wollte. Die weinende Frau hatte sich noch nicht damit abgefunden, nicht mehr gesund zu sein. Genauso geht es mir, dachte ich, während ich, unbeholfen und verlangsamt, versuchte, die Bewegungen der Tanzlehrerin nachzuvollziehen.

Die Teilnehmer des Kurses nahmen mich als einen der ihren auf. Dagegen hatte ich nichts. Ich sah keinen Grund, mich von den beiden Mädchen mit Down-Syndrom oder von dem Verrückten mit der Papierpuppe im Arm abzugrenzen. Einerseits. Andererseits wollte ich nicht nur als behinderter Mensch wahrgenommen werden. Mit ironischem Abstand mich selbst beobachtend, erkannte ich die Vergeblichkeit meines Bemühens, normal zu wirken. Lasst Euch von meinem Erscheinungsbild nicht täuschen, glaubt mir, ich bin einer von Euch, ich habe doch Abitur, hätte ich den Gesunden gern erklärt.  Aber es gelang mir nicht, im Gespräch mit der Tanzlehrerin meine Gedanken verständlich zu artikulieren. Was ich mir im Kopf zurechtgelegt hatte, kam mir nur abgehackt, nuschelnd und viel zu leise über die Lippen. Ich spürte das Gefälle zwischen uns. Die Tanzlehrerin hatte mich eingeordnet, das meinte ich zu spüren. Ich war nicht mehr in der Lage, meine Wirkung auf andere zu steuern. Das übernahm Parkinson. Wer mit mir kommunizierte, musste über eine enorme Empathie und viel Geduld verfügen, um den Menschen hinter der starren Maske zu erkennen und anzusprechen. 


Mir war, als hörte ich das hämische Lachen des ungebetenen Gastes, der sich in meinem Gehirn breitmacht.  

 

Parkinson. Eine Abrechnung

 

In meinem Oberstübchen macht sich ein ungebetener Dauergast breit. Ein Kotzbrocken, der sich aufs Sofa fläzt, die beschuhten Füße auf die Tischplatte legt, Kippen auf den Teppichboden schnippt und nicht aufhört, mir Vorschriften zu machen. Jeden anderen hätte ich längst rausgeschmissen. Stattdessen sehe ich den Tag kommen, an dem der Drecksack mir die Tür weist.

 

Als ich die Diagnose Parkinson bekam, war ich 57 Jahre alt. Sechs Jahre lang hatten mich Schmerzen, Missempfindungen, Ängste und Depressionen gequält. Weder mein Hausarzt noch Fachärzte verschiedener Disziplinen, weder Physio- noch Psychotherapeuten erkannten, woran ich litt. Falls ich einmal sterben müsste, unkte ich damals, dann an einer eingebildeten Krankheit.

 

Wer sich im Internet über Parkinson informiert, stößt unweigerlich auf den Hinweis: An Parkinson stirbt man nicht. Ein schwacher Trost, fand ich anfangs. Im Laufe der Zeit wurde mir klar: die Aussicht, irgendwann an Parkinson sterben zu müssen, beunruhigte mich nicht. Mich beunruhigt viel mehr die Drohung, bis dahin mit Parkinson leben zu müssen.

 

Erstaunlich viele Menschen, vor allem solche, die in der Alten- und Krankenpflege arbeiten, versuchen meine Frage, was besser sei, Alzheimer oder Parkinson, ernsthaft zu beantworten. Die meisten sagen nach einiger Überlegung, Alzheimer sei besser. Warum, weiß ich nicht mehr. Aber ich habe Angst, sie könnten recht behalten.

 

 

Was Ottfried Fischer und seine Frau mich lehrten

 

Als Ottfried Fischer Nachfolger von Ulrich Wickert als Präsident der Parkinsonstiftung werden sollte, las er ein Infoblatt über die Krankheit und fiel aus allen Wolken: „Diese Krankheit habe ich.“ Parkinson schleicht sich unbemerkt ins Leben, setzt sich dort fest und geht nicht mehr weg. In der Reihe „Lebenslinien“ des Bayrischen Rundfunks portraitiert Manuela Ruppert den Schauspieler und Kabarettisten, der 2008, 55-jährig, seine Parkinson-Erkrankung öffentlich machte.

 

„Den Menschen gefällt es, wenn man gegen sein Schicksal angeht. Aber die Aufträge bleiben aus.“ Fischers sarkastischer Humor spricht mich an. Ich weiß noch, wie ich auf der Terrasse eines Allgäuer Hotels sitzend - mit frischer Diagnose - ein Interview mit ihm in der Süddeutschen Zeitung las. Ich hatte gerade meine Werkstatt für Satz- und Möbelbau „möbel & texte“ gegründet. Nicht aufgeben: du hast keine Chance, nutze sie. Diese Haltung habe ich mir von dem schwergewichtigen Bayern abgeschaut.

 

Parkinson zwingt zur Langsamkeit. Der Geist ist unverändert aktiv, aber die Umsetzung dessen, was man noch will, gelingt nicht mehr. Ob das eine Radtour ist oder eine berufliche Herausforderung. Alles braucht mehr Zeit. Das ist schwer zu akzeptieren. Ich schrieb eine Zeit lang, als ginge es um mein Leben (es ging um nichts anderes). Seit zwei Jahren muss ich zunehmend mehr Zugeständnisse an Parkinson machen. Dann sitze ich einfach rum und sinniere vor mich hin. Dabei falle ich schon mal vom Stuhl.

 

Ottfried Fischer singt gegen den Verlust der Stimme an. Ungeschützt setzt er sich der Kamera aus. So beginnt das Feature. Wenn man sieht, wieviel Kraft ihm das Singen abverlangt, wie tapfer er durchhält: das ist rührend und ruft Bewunderung hervor. Ottfried Fischer ist Profi - mit und ohne Parkinson.

 

Seine Ehefrau ist ständig um ihn. Gut, wie sie das macht. Sie lässt durchblicken, wie hart der Alltag sein kann. Wie sehr sie kämpfen muss, um nicht unterzugehen. Wie abhängig sie von professioneller Unterstützung ist. Ohne Liebe wäre diese Fürsorge nicht möglich, sagt sie. Sie hat Recht. Ich weiß es aus Erfahrung.

 

 

Parkinson und Pandemie

 

Demnächst hier der Versuch einer Aufarbeitung.

 

Wie alles anfing

2005 erstmals leichte Schmerzen im rechten Arm. In sechs Jahren häufen sich die Leiden. Die Ärzte finden nichts. Ich mache berufliche Fehler, verstehe mich selbst nicht mehr. 2011: Rien ne va plus. Ich steige aus, beginne eine Tischlerlehre. 2013: Gesellenbrief und die Diagnose Parkinson. Zurück auf dem Boden der Tatsachen.

 

 

 

 

2014 gründe ich möbel & texte, die Werkstatt für Satz- und Möbelbau in Hamburg Altona. In 40 Jahren war ich Dozent für die Diakonie, Journalist beim NDR- Fernsehen in Hamburg und Pressereferent in Kiel. Die letzten sechs Jahre, die ich Parkinson abtrotzte, waren ein Geschenk. Dank meiner Kunden. Ich war mit Leib und Seele Schreibtischler.

 

Manch einer nimmt die Herausforderung an, wird gleich Parkinson-Experte in eigener Sache. Ich wollte nach der Diagnose vor allem Normalität; schob das Kranksein auf. Und siehe da: Parkinson ließ mir eine Galgenfrist. Inzwischen erlebe ich, Helmut Dubiel hat recht: Parkinson hat man nicht, er hat einen.

 

 

Kranke stolpern über Hindernisse, die Gesunde nicht einmal wahrnehmen. Wenn sie die Behinderung als Erweiterung ihrer Perspektive begreifen, können sie sich behaupten - listig und jederzeit bereit, lästig zu werden.

 

Wer die Welt gebeugt durchquert, sieht erst spät, was auf ihn zukommt. Er verlässt sich auf die Weitsicht und die Rücksichtnahme der aufrecht Gehenden. Kein Problem: die meisten Menschen sind entgegenkommend.

 

Spät, aber nicht zu spät, kam ich auf Bazon Brock: Hinter jedem gelösten Problem tun sich zwei neue auf. Innerlich kerzengrade verteidige ich Artikel eins des Grundgesetzes. Wohl wissend: die Würde des Menschen ist antastbar.