Unsere Mutter wollte im Heim sterben. Sie hatte bereits mehrere Wochen im Krankenhaus hinter sich, als die Ärzte schließlich Knochenkrebs diagnostizierten, der die Nieren zerstörte. Bis dahin war die 84-Jährige nie ernsthaft krank gewesen.
Nun unterzog sie sich auf Anraten eines jungen Arztes einer Dialyse. Aber die Blutwäschen dreimal in der Woche erwiesen sich als quälende Prozedur. Ihre Hoffnung, beschwerdefrei in ihre Wohnung zurückzukehren, erfüllte sich nicht. Erschöpft brach sie die Behandlung ab. Ihr blieben noch zwei bis drei Wochen zu leben, sagten die Ärzte.
Meine Schwester, eine examinierte Altenpflegerin, bot ihr an, sie bis zum Ende zu pflegen. Als ehrenamtliche „Grüne Dame“ hatte Mutter rund 30 Jahre Erfahrung mit dem Alltag in Pflegeheimen. Trotzdem nahm sie das Angebot nicht an. Sie wollte – wie immer – keine Umstände machen.
Nachdem sie sich gegen die Dialyse entschieden hatte, schien ein Druck von ihr genommen zu sein. Ihr war bewusst, wie kurz ihre Lebensspanne war. Sie haderte nicht mehr, sondern freute sich über kleine Dinge, wie die herbstlich gefärbten Blätter, die ihr meine Schwester mitbrachte.
Ihre letzten Tage und Nächte verbrachte sie in einem Zweibettzimmer. Das unablässige Stöhnen ihrer Mitbewohnerin ignorierte sie. Selbst wenn sie ein Einzelzimmer gewünscht hätte, wäre keines frei gewesen.
Mutter hatte nur einen Wunsch: Das Bett sollte direkt ans Fenster. Sie wollte die Wolken beobachten können. Den Pflegerinnen war die Umstellung nicht recht: der Zugang zum Fenster müsse freigehalten werden. Wir setzten uns über diese Anweisung hinweg. Irritiert über die mangelnde Flexibilität stellten wir das Bett um.
Auf der Website präsentierte sich das katholische Pflegeheim als „Seniorenstift" am idyllischen Ufer der Ruhr. Fotos vitaler älterer Damen warben für einen anregenden Lebensabend. Im Text hieß es, der Mensch stehe im Mittelpunkt. Kein Wort über Sterbebegleitung.
Es bestehe kein Anlass zur Sorge, versicherte die Leiterin des Wohnbereichs. Man habe Erfahrung in der Begleitung Sterbender und arbeite eng mit Ärzten zusammen. Mutter werde keine Schmerzen erleiden müssen.
Wir drei Kinder waren von da an so oft wie möglich bei unserer Mutter, auch nachts. Kaum auszudenken, was sie erlitten hätte, hätten wir sie der Obhut des Heimpersonals überlassen. Denn anders als versprochen, waren die Mitarbeiter unerfahren im Umgang mit Sterbenden.
Als meine Schwester vorschlug, Morphium-Pflaster zu beschaffen, für den Fall, dass Mutter Schmerzen unerträglich würden, reagierte das Heimpersonal nicht. Also fuhr meine Schwester zu Mutters Hausärztin und besorgte ein Rezept.
Das erste Pflaster wurde geklebt. Trotzdem litt Mutter fürchterlich. Ich lief zum „Servicezimmer". Mutter könne keine Schmerzen haben, das Pflaster wirke noch, beschied mir die Schwester. Sie verließ aber das Dienstzimmer nicht, um sich selbst ein Bild zu machen. Ohnehin dürfe sie das zweite Pflaster gar nicht aufkleben. Es fehle eine Verordnung. Ich war perplex: Schließlich hatte man Mutter Schmerzfreiheit versprochen. Doch ich wollte keinen Streit, sondern schnelle Hilfe und bat darum, einen Arzt zu rufen. Die Pflegerin versprach nicht etwa, sich zu beeilen, sondern sagte von oben herab: „Das kann dauern."
Fast eine Stunde harrten mein Bruder und ich an Mutters Bett aus, hielten ihre Hand, ohne ihr helfen zu können. Dann fragte ich, wo der Arzt bleibe. „Meine Kollegin telefoniert gerade mit ihm. Bis jetzt sind wir nicht durchgekommen." Vor der Tür stehend hörte ich dem Gespräch zu; unschlüssig, ob ich gehen oder bleiben sollte. Eine Pflegerin nahm mir die Entscheidung ab, indem sie die Tür laut zuschlug.
Im Heim schien der Grundsatz zu gelten: „Hauptsache satt und sauber". Als Mutter schon nicht mehr schlucken konnte, brachte eine philippinische Pflegerin immer noch Essen. Ich wies sie auf Mutters Zustand hin, war aber nicht sicher, ob sie mich verstanden hatte. Ich atmete auf, als sie mit dem Tablett verschwand. Aber sie kam wieder, mit einem Becher. „Joghurt geht?!" Am Mittag vor ihrem Tod wurde Mutter noch Erbsensuppe serviert.
Wenn Mutter gewaschen und neu gelagert worden war und wir zurück ins Zimmer durften, hieß es: „Sie können rein", oder: „Mutti gut." Einmal teilte mir ein Nachtpfleger mit: „Ich habe ihre Mutter gewaschen und gelagert. Ich habe sie gekämmt, das tut ihr gut. Ihre Mutter ist ansprechbar." Ich hätte weinen können, weil ich spürte, wie viel Druck von mir abfiel, nur weil mir ein Helfer professionell begegnete.
Für uns war nicht zu erkennen, was Mutters Zimmergenossin von all den Aktivitäten um sie herum mitbekam. Einmal erlebten wir, wie eine Mitarbeiterin einen Wagen mit allerhand Kleinkram an ihr Bett rollte. Sie stellte Boxen auf und schaltete einen CD-Player an: Sphärenmusik erklang und beschallte unsere Mutter gleich mit. Nach einer halben Stunde war die Show vorbei. „Die schreibt jetzt 30 Minuten soziale Betreuung auf", vermutete meine Schwester.
Mutters Entscheidung, ihren Tod anzunehmen, machte die Pflegenden offenbar hilflos. Tröstend strichen sie der Sterbenden durchs Gesicht, nannten sie „Schatz". Unsere Mutter hasste übergriffige Berührungen. Aber die professionellen Helferinnen störte das nicht. Mit Tränen in den Augen stand eine examinierte Pflegerin am Bett der Sterbenden und presste heraus: „Frau Moes, gute Besserung."
Wir hatten nie den Eindruck, die Pflegenden versuchten sich in Mutters Lage versetzen. Sonst hätten wir nicht vier Tage vor Mutters Tod eine besonders heftige Auseinandersetzung erlebt. Mutter hatte wieder Schmerzen. Es war 16 Uhr. Ich bat um Hilfe. „Medikamente gibt es um 18 Uhr", teilte die Pflegerin mit. Die Ärztin habe es so verordnet. Mir hatte die Ärztin kurz zuvor gesagt: „Wir befinden uns in der Palliativphase. Da kann man gar nicht überdosieren. Es geht nur noch um Schmerzvermeidung." Sie hatte aber anscheinend die Verordnung nicht entsprechend aktualisiert.
Die hinzugeholte Wohnbereichsleiterin unterstützte ihre Mitarbeiterin: Wir seien nun einmal nicht im Hospiz. Dort, so verstand ich sie, hätte man unserer Mutter helfen können. Ich habe mich selten verlorener gefühlt.
Kaum war ich zurück in Mutters Zimmer, als die Heimleiterin eintraf. Sie trat ans Bett der Sterbenden. Mit einem Wattestäbchen befeuchtete sie ihr den Mund. Dann wandte sie sich an mich: „Ich biete Ihnen einen Kompromiss an. Wir geben das Medikament um 17 Uhr." So wurde es gemacht.
Einen Tag bevor Mutter starb, fragte eine examinierte Pflegerin: „Ist es Ihrer Mutter nicht langweilig? Wir könnten sie in den Rollstuhl setzen oder ihr einen Fernseher aufstellen."
So viel Ignoranz fand sogar die Heimleiterin schlimm. Am Tag nach Mutters Tod suchten wir sie auf, um ihr unsere Erlebnisse mitzuteilen. Sie schien uns nicht ernst zu nehmen und merkte offenbar erst im Verlauf des Gesprächs, dass wir nicht Dampf abließen, sondern fachliche Kritik vorbrachten.
Die fehlende Sensibilität im Umgang mit Sterbenden sei bedauerlich. Eine Mitarbeiterin habe einen Palliativkurs belegen sollen, der sie in die Lage versetzt hätte, das Personal zu schulen. Leider sei sie schwanger geworden. Eine neue Interessentin sei aber gefunden! Wie viele Bewohner des Pflegeheims jedes Jahr sterben, konnte Sie nicht sagen, gab dann aber zu: „Die meisten sterben im Krankenhaus."
Erst da wurde uns klar: Man hätte unsere Mutter höchstwahrscheinlich im Sterben liegend routinemäßig mit dem Notarztwagen in die Klinik geschafft. Abschließend fragte ich die Heimleiterin nach der Note, die das Heim im Qualitätstest des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen bekommen hatte. Da strahlte sie: „Durchweg sehr gut."
Mutter starb um drei Uhr in der Frühe. Ich saß bei ihr – ein unwirklicher Moment. Kurz darauf schaute die Nachtschwester rein. Sie hätte die Verstorbene am liebsten so schnell wie möglich gewaschen und rausgeschafft. Ich machte ihr mit Nachdruck klar, Abschied nehmen zu wollen und komplimentierte sie hinaus. Dann hörte ich nur noch den rasselnden Atem der Bettnachbarin.
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