So tun als ob

 

Über das Leben, die Liebe, die Arbeit. Und über Parkinson

 

Ein Auszug aus meinen Erinnerungen. Ringheftung, 148 Seiten, 20 Euro.

 

 

Die Tanzlehrerin begrüßte mich freundlich. Sie vermied, so gut es ging, den behutsamen, mitleidigen Unterton, mit dem man zu Behinderten spricht. Schön, dass du gekommen bist, Stefan. Ich hatte mich per E-Mail zu diesem Tanzkurs für Menschen mit und ohne Behinderung im Dezember 2024 angemeldet. Die durchtrainierte Tänzerin machte eine Übung vor und erklärte, jeder bestimme selbst, was er wie mitmachen wolle. Ich wusste noch nicht, wozu ich in der Lage sein würde. Die Anfahrt mit S- und U-Bahn war nicht lang gewesen. Aber anstrengend genug, um mich unter Stress zu setzen. Vielleicht zeigte die Dopaminpille deshalb nicht die gewünschte Wirkung. Wie auch immer: mein Körper war angespannt, meine Hände zitterten, ich spürte die Starre meines Gesichts, während ich mich zwang, möglichst aufrecht zu stehen und den Mund zu schließen. (...) Mit einer psychisch kranken Frau, die Stimmen hörte und einen Großteil ihres Lebens in Psychiatrien verbrachte, blieb ich in Kontakt. Ulrike wurde eine gute Freundin.

 

Ihr erzählte ich von meiner ersten krankengymnastischen Behandlung, als mich die Therapeutin im betulichen Ton lobte: Da freut sich die Hand. Ich hatte mich angestrengt für eine Bewegung, auf deren Ausführung ich als Gesunder keinen Gedanken verschwendete. Ich sah keinen Grund, mich über den Verlust meiner Beweglichkeit hinwegzutäuschen. Ulrike machte mich darauf aufmerksam, dass sie die Bemerkung der Therapeutin positiv aufgenommen hätte. Sie hätte als Ansporn verbucht, was für mich kränkend war. Mir fiel eine Musiktherapiestunde in der Hamburger Universitätsklinik ein. Schon 20 Minuten Tanzen zu vertrauten Melodien reaktiviere die körpereigene Produktion von Dopamin, versprach der Therapeut. Wir bewegten uns mehr oder weniger unsicher durch den Raum. Ich hatte mir sogar ein Tamburin in die Hand drücken lassen, auf das ich einschlug wie ein Tanzbär. Plötzlich begann eine Teilnehmerin heftig zu weinen. Statt sich darüber zu freuen, dass sie noch zu I can´t get no satisfaction tanzen konnte, erschrak sie über die Verluste, die ihr das Alter und die Krankheit zumuteten. Ich verstand sie voll und ganz. Dem Therapeuten fiel die Frau nicht auf. Jedenfalls ignorierte er sie. Ihre Trauer passte nicht in sein Konzept. Für ihn waren wir Kranke, denen er das Leben angenehmer machen wollte.

 

Die weinende Frau hatte sich noch nicht damit abgefunden, nicht mehr gesund zu sein. Genauso geht es mir, dachte ich, während ich, unbeholfen und verlangsamt, versuchte, die Bewegungen der Tanzlehrerin nachzuvollziehen.

 

Die Teilnehmer des Kurses nahmen mich als einen der ihren auf. Dagegen hatte ich nichts. Ich sah keinen Grund, mich von den beiden Mädchen mit Down-Syndrom oder von dem Verrückten mit der Papierpuppe im Arm abzugrenzen. Einerseits. Andererseits wollte ich nicht nur als behinderter Mensch wahrgenommen werden. Mit ironischem Abstand mich selbst beobachtend, erkannte ich die Vergeblichkeit meines Bemühens, normal zu wirken. Lasst Euch von meinem Erscheinungsbild nicht täuschen, glaubt mir, ich bin einer von Euch, ich habe doch Abitur, hätte ich den Gesunden gern erklärt.  Aber es gelang mir nicht, im Gespräch mit der Tanzlehrerin meine Gedanken verständlich zu artikulieren. Was ich mir im Kopf zurechtgelegt hatte, kam mir nur abgehackt, nuschelnd und viel zu leise über die Lippen. Ich spürte das Gefälle zwischen uns. Die Tanzlehrerin hatte mich eingeordnet, das meinte ich zu spüren. Ich war nicht mehr in der Lage, meine Wirkung auf andere zu steuern. Das übernahm Parkinson. Wer mit mir kommunizierte, musste über eine enorme Empathie und viel Geduld verfügen, um den Menschen hinter der starren Maske zu erkennen und anzusprechen.

 

Mir war, als hörte ich das hämische Lachen des ungebetenen Gastes, der sich in meinem Gehirn breitmacht. 

 

 

 

 

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