Die Flüchtlinge, die Nazis und wir

 

Blick zurück nach vorn

 

 

Nachgebesserte Gedanken nach einem Abend in der Berliner Schaubühne. Die Flucht war ein Medienereignis, lässt Milo Rau eine Schauspielerin erzählen. Syrische Hipster hätten das Lager in der Türkei zu Fuß verlassen, vorbei an Müllhalden, vor laufenden Kameras. Dann seien sie 200 Meter weiter unbeobachtet in klimatisierte Busse gestiegen, die sie nach Europa brachten. In seinem Stück „Mitleid“ lässt er Opfer zu Tätern werden, „alles Arschlöcher“. Nur eines bleibt unbestritten: schuld - diese Erkenntnis zieht sich durch jede Szene des Stücks - ist der Westen. Vergeblich machen westliche Gutmenschen auf Mitleid. Sie bleiben Täter. Weil ihre Kultur auf Raub und Gewalt beruht.

 

Es ist wohl diese Gemengelage, die das Sprechen über die Fluchtbewegung im Moralischen stecken bleiben lässt. Seit der skandalösen Tagesschau-Wutrede von Anja Reschke Anfang August 2014 schien die Alternative nur noch Nazi und Flüchtlingsunterstützer zu sein.

 

Freundlich waren die Aktiven der Willkommenskultur nur zu den Flüchtlingen. Der unkritischen Bewunderung für die von weit her Gekommenen stand die Verachtung der unbeweglichen einheimischen Unterschichtler gegenüber. Da beschimpfte ein SPD-Wahlkampfmanager ostdeutsche Prolls als „Vollpfosten“, weil die sich nicht auf die Flucht nach Stuttgart machten, wo Unternehmer „Hände ringend“ Arbeiter suchten. Statt mal zu recherchieren, wie dort die Chancen auf dem Arbeitsmarkt aussehen, druckte die Redaktion des Magazins „Stern“ das Pamphlet ab. Es passte voll in die Medienkampagne, die im Herbst noch von den ins Land strömenden Facharbeitern schwärmte, die Deutschland uneinholbar machen würden. Wer Medien hat, braucht keine Zensur, richtete einst Peter Hacks.

 

Wer Kritik übt, wird seitdem oft ehe er sich versieht zum „Hetzer“. Wer Zusammenhänge herstellt, hängt „Verschwörungstheorien“ an, argwöhnt die Presse, die nicht „Lügenpresse“ genannt werden darf. Denn das sagen nur Nazis. Überall im verminten Diskursgelände lauert die Gefahr, in einen Shitstorm zu geraten oder von einer PC-Mine zerrissen zu werden.

 

Selbstverständlich wird gehetzt. Genüsslich treten die Medien die AfD-Forderung nach dem Schießbefehl breit. Natürlich kursieren Verschwörungstheorien. Ein Drahtzieher der kampagnenartigen Berichterstattung war die Bertelsmannstiftung. Sie empfahl Reportagen über tatkräftige Flüchtlinge, deren Nutzen herausgestellt werden soll. Genau so etwas las, hörte und sah man im Herbst 2015 auf allen Kanälen. Eine Verschwörungstheorie?

 

Die Fachkräftelüge war nicht zu halten. Dann stellten die Medien den demographischen Nutzen der vielen jungen Menschen heraus. Allen Zweifeln zum Trotz: So stellen die Nachkommen der Gastarbeiter in der zweiten, dritten Generation einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Hilfeempfängern. Was soll aus Erwachsenen werden, die kein Wort Deutsch können?

 

Vom Nutzen redet niemand mehr. (Es war ja auch eine völlig unangebrachte Sichtweise. Die Aufnahme von notleidenden Menschen ist nicht nützlich, sie ist human.)

 

„Wir schaffen das“, erklärte die Kanzlerin, die noch kurz vorher sicher war: „Multi-Kulti ist gescheitert“. Aber solche Widersprüche interessieren nicht. Das Bekenntnis zählt. Und das „Wir“. Wir Deutschen zeigen Europa, wie Mitmenschlichkeit geht. Edelfeder Cordt Schnibben, SPIEGEL, berichtete ergriffen von den jungen Deutschen, die sich aufopferten. Für Deutschland.

 

Wer wagt es jetzt noch, „uns“ den Ruin Griechenlands vorzuwerfen!

 

Ich frage mich, wer profitiert, wenn Deutschland profitiert?

 

Es gibt keine Diskussion. Nur Argumentationsversatzstücke. „Wir haben auch 1945 die Flüchtlinge integriert“, ist so eine Behauptung. Das waren Deutsche. Sie kamen in ein zerstörtes Land, das „Hände ringend“ Männer brauchte, vom Handlanger bis zum Ingenieur. Gemeinsam schufteten die Deutschen, die keine Nazis mehr sein durften und bauten auf.

 

Handlanger, Beifahrer, Schaffner werden nicht mehr gebraucht. Im Gegenteil, die Unterschicht hängt am Sozialhilfetropf. Das solidarische Sozialsystem ist den Politikern schon lange ein Dorn im Auge. Sie schwächten es bereits, indem sie ihm die Kosten der deutschen Einheit aufhalsten. Geschichten wiederholen sich.

 

In Milo Raus Stück heißt es: „Wir müssen uns den Nazis entgegen stellen. Wir müssen den Flüchtlingen helfen. So ist das doch: Entweder alle sind für oder alle sind gegen die Nazis oder die Flüchtlinge.“

 

Die Nazis aus der Mitte der Gesellschaft geben inzwischen die Meinungsmacher in Talk Shows. Bald sitzt die AfD im Bundestag.

 

In nur einem Jahr habe es Europa geschafft, die Flüchtlinge hinter der Flüchtlingsdebatte verschwinden zu lassen, schreibt Caterina Lobenstein heute, am 2. 6. 2016 in der ZEIT. Dieses Nebeneinander von Willkommenskultur und massiver Abschiebung und Abschottung ist gespenstisch.

 

 

 

Berlin, 10./11. 2. 2016, ergänzt 2. 6. 2016

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stefan Moes Schreibtischler moes@hamburg.de 0049 40 319 755 96 0049 171 834 89 64 www.moebel-und-texte.de

 

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