Aus meinem Archiv
1989 schien der Anfang vom Ende der Geschichte zu erreicht zu sein. Der Westen hatte den Realen Sozialismus besiegt, ohne einen Schuss abzugeben. Optimisten versprachen eine „Friedensdividende“, keine Feinde nirgends. 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis.
Der Optimismus war unbegründet. Das festzustellen reichte damals ein Blick ins Weisbuch der Bundeswehr. Sie rüstete nicht ab, sondern um. Die NATO schob sich nach Osten. Und während nun auch die Ostdeutschen Freiheit mit Reisefreiheit gleichsetzten und die Welt zum Freizeitpark machten, zog Europa die Brücken hoch: für Arme kein Zutritt. Ungerührt sahen die Friedenspreisgewinner den im Mittelmeer Ertrinkenden zu.
Die Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten kamen auch ungebeten. Sie bestiegen die Boote, um Kriegen und wirtschaftlichen Krisen zu entkommen, die ihre Ursachen vor allem in europäischer
Politik haben – aus Kolonialzeiten, als die Europäer willkürlich Grenzen zogen, bis heute.
In letzter Zeit erreichen auch viele Osteuropäer den Westen. Sie pflegen Alte, sitzen an Supermarktkassen und unterbieten ansässige Handwerker. Diese Migration ist politisch gewünscht. Die EU
brachte den neuen Mitgliedern ihr Wirtschafts- nicht aber ihr Sozialsystem. Die Osteuropäer sollen die Lohnkosten im Westen zu senken.
Inzwischen erobern Populisten die Parlamente. Dort sitzen Parteien, die es als ihre Aufgabe sehen, ihren jeweiligen Wählergruppen den Neoliberalismus schmackhaft zu machen. Die Wirtschaft will Freihandel, also noch mehr Geld auf die Konten der Reichen. Im Geheimen verhandeln die Regierungen die Enteignung der Allgemeinheit. Die Volksvertreter stimmen am Ende ihrer Entrechtung zu und führen Gerichte ein, die das Recht auf Profit durchsetzen sollen. Die Aushöhlung der Freiheit in ihrem Namen, wie von George Orwell erdacht.
Seit mehr als zehn Jahren sorgt die Politik aktiv dafür, dass Menschen aus den sozialen Sicherungssystemen herausfallen. Die Schaffung eines „Niedriglohnsektors“ mit der Agenda 2010 war das wegweisende rot-grüne Projekt. Besteuerung der Reichen – nein danke.
In die auseinander driftende Gesellschaft kommen die Flüchtlinge, die im Herbst 2015 einen historischen Moment nutzten. Die Kanzlerin beruhigte kurz zuvor noch die Rechtspopulisten, indem sie
Multikulti für gescheitert erklärte. Nun sagte sie: „Wir schaffen das“. Ein Jahr später gibt es kein Konzept – nicht einmal eine breite Diskussion darüber – wie die Solidarsysteme zu organisieren
wären, damit sie die Versorgung von Menschen, die es nicht in den ersten Arbeitsmarkt schaffen werden, sicherstellen können. Das muss Absicht sein.
Außenpolitisch kippte die Stimmung. So weltfremd der damalige Optimismus war, so eindimensional ist jetzt die Schuldzuweisung an Russland, mit dem die Qualitätspresse ihr bildungsbürgerliches Publikum in Kriegsstimmung bringt. Sie verurteilt „Putin-Versteher“, verschweigt die Interessen des Westens. Die Freihandelsabkommen sieht sie durch die nationale Brille: die USA wollten die Vorherrschaft. Antiamerikanismus geht immer.
Gesinnung statt Besinnung gilt auch im Innern. So wurden die Flüchtlinge von Anfang an zur Stimmungsmache gegen die eigene Unterschicht, insbesondere gegen ostdeutsche „Vollpfosten“, benutzt. Es kämen Fachkräfte, behaupteten alle von BILD bis SPIEGEL. Deutschland könne mit einer guten Tat seine historische Schuld abstreifen und zugleich seine wirtschaftliche Macht ausbauen. Man lese Texte von „Edelfedern“ wie Cordt Schnibben oder Carolin Ehmcke.
Bürgerliche Flüchtlingsunterstützer freuen sich derweil in Einfalt über Vielfalt. Wer flüchtet, muss ein guter Mensch sein. Sie feiern Angela Merkel für ihr „Wir schaffen das“ und blenden ihre rigide Asyl- und Sozialpolitik aus.
Die Kölner Silvesternacht genügte, um aus Hoffnungsträgern Problembären zu machen. Die Bild-Zeitung hat ihre alten Themen wieder und freut sich über „Asylbetrüger“. Genauso scheinheilig die Verwunderung, dass in Ostdeutschland so wenige Flüchtlinge so viel Abwehr auslösen. In den abgehängten Regionen treffen sich „Vollpfosten“ und „Facharbeiter“ auf dem Sozialamt. Sie konkurrieren um Almosen. Das festzustellen, entschuldigt Rassismus nicht. Es zeigt nur, dass der moralgetriebene Antirassismus zu kurz greift.
Auch auf der Linken kommt Moral – verkleidet als political correctness – vor Analyse. Dabei sind die tektonischen Beben spürbar.
Die globalisierte Mobilität der weltweiten Eliten, der Massentouristen und der Arbeitsuchenden verwandelt die europäische Stadt. Sie wird Migropolis: ihre Bewohner leben auf dem Niveau der
Ersten, der Prekären und der Dritten Welt. Mitten in Europa schuften Menschen in Sweat-Shops wie in Bangladesh.
Nicht nach uns komme die Sintflut, sie sei bereits neben uns, schreibt der Soziologe Stephan Lessenich. Wachstum gebe es in der
kapitalistischen Wirtschaft immer nur zu Lasten anderer. Gewinne der einen seien Kosten der anderen – ein Nullsummenspiel. Zum Beispiel habe der Westen umweltschädliche Produktionen in die Dritte
Welt verlagert, den Raubbau mit seinen Folgen den Menschen dort aufgehalst. Auch deshalb wurde der Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau, wie es Willy Brandt versprochen hatte. Inzwischen
gelingt das nicht mehr: Die Umweltkatastrophen, die Gewalt, die Armut kehren zu den Verursachern zurück.
Die Reichen wollen reicher werden. Das geht nur, wenn die Armen ärmer werden. Die
Eliten denken und handeln längst weltweit, supranational. Verängstigte Mittelschichtler sehnen sich nach ethnisch reinen Nationalstaaten. Und die Migranten aus Osteuropa, Asien und Afrika wollen
endlich auch, was die Westeuropäer ein normales Leben nennen.
Doch dahin gibt es kein Zurück. Die Geschichte fängt erst an.
24. September 2016
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