Über Udo- und Utopien
Mit einem Betrug geht es los. Mit enttäuschten Hoffnungen. Das „rot-grüne Projekt“ hatte Demokratisierung versprochen, den „ökologischen Umbau“ der Gesellschaft. An der Regierung, packten SPD und Grüne ihre Agenda 2010 aus, kappten die Wurzeln des Sozialstaats und erweiterten das Prekariat. Seitdem sammelt die SPD bei Wahlen die Quittungen. Sie wurde von einer Volks- zu einer Nischenpartei. Von der Rückkehr zu alter Größe kann die Partei nur nostalgisch träumen.
Im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses lauschen Menschen über sechzig dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Grünen, Thomas Ebermann. Er sei Kommunist, erklärt er. Viele seiner Fans waren oder sind es auch. Und wie er wirken sie ärmlich und verlebt. Nostalgie, wenn nicht hier, wo dann? Eine linke Zukunftsvision verbindet die Menschen nicht mehr. Er sei ohne Hoffnung, verrät Ebermann. Der Kette Rauchende gibt sich klug. Man hört ihm gern zu und fühlt sich wie damals in der rauchgeschwängerten Luft des Audimax.
Bis er zum Schluss etwas völlig Unerhörtes sagt: Es mögen alle, die zu uns fliehen wollen, auch hier ankommen. Unsere Aufgabe sei es, ihnen die Ankunft in Deutschland zu ermöglichen. Dazu sei jedes Mittel recht.
Die Menschen um die 60, die in die Dortmunder Westfalenhalle pilgern, wirken frischer als die im Malersaal. Die Nachfahren der Malocher haben anscheinend gesunde Jobs. Den blauen Himmel über dem Ruhrgebiet, den Willy Brandt 1974 versprach, genießen sie jetzt. Die Stahlwerke produzieren Dreck und graue Luft längst anderswo. In China zum Beispiel. In der wunderbaren Halle wollen die jung Gebliebenen dem ewigen Jungen Udo Lindenberg huldigen. Sein Markenkern: Ich bin mir treu geblieben und bin einer von euch. Der Mann lebt Nostalgie. Er singt für jede Menge Money auch in diesem Palast.
Im Ruhrgebiet der 60er Jahre aufgewachsen, war mir die Westfalenhalle durch Bilder von Sechstagerennen bekannt. Jetzt sitze ich da, wo früher Rudi Altig durch die Rauchschwaden raste. Die Gegenwart schwappt als gigantische Videoinstallation in die Halle. Raketen, Krieg, Plastiktüten im Meer, tote Vögel. Udo manscht alles in seine Show. Sie soll betroffen machen für die Folgen einer Technologie, die Udos Techniker mit großem Aufwand nutzen, um eine Botschaft zu transportieren, die auf der Hand liegt: weniger wäre mehr.
Hier wird eine irgendwie links empfundene Heimat gesucht. Fürs Gemüt. Leben will man lieber im Hier und Jetzt der Konsumgesellschaft. Die Lautstärke, die Show, die Familieninszenierung von Udos Panikband: alles dient der Überwältigung. Die Texte versteht nur, wer sich die Ohren zuhält. Und wer sie hört, versteht die Welt nicht mehr. Wie kann ein solcher Politkitsch Menschen begeistern? Udo springt auf jeden Zug, lädt die Gender- Betroffenen auf und die Klimademonstranten. Seine Show konterkariert jede Nachdenklichkeit. Immer volles Rohr.
So wie ja auch im echten Leben jede gute Idee zurEinsparung von Rohstoffen nur weitere Produktionsschübe nach sich zieht. Unser Wirtschaftssytem kann nur Wachstum. So führt der Verzicht aufs eigene Auto nicht zu weniger Verkehr. Denn nun müssen an jeder Ecke Autos, E-Räder und E-Roller bereit stehen. More of the same: Das ist nun mal der Motor des Kapitalismus. Nur ahnt inzwischen jeder: das kann nicht gutgehen. Das geht so nicht weiter.
Der gefühlte Bruch im gesellschaftlichen Gefüge mache sich seit 2015 bemerkbar, schreibt Cornelia Koppetsch in ihrem aktuellen Buch Die Gesellschaft des Zorns, in dem sie den Aufstieg der Populisten analysiert. Die Medien stimmten die Gesellschaft auf die kommenden Flüchtlingsströme ein. Meine Kollegin Agnes Handwerk und ich berichteten damals für den NDR-Hörfunk über die Illusion einer Win-Win-Situation. Die Flüchtlinge sollten die Solidarsysteme retten, so die Botschaft. Wir hielten das für unwahrscheinlich.
Jetzt lese ich die Analyse von Frau Koppetsch und finde dort vieles, was wir frühzeitig angesprochen haben. Aber jetzt sind die Rechten nicht mehr ein paar versprengte Ostdeutsche. Sie sitzen in den Parlamenten und treiben die liberalen Parteien vor sich her. Das lesenswerte Buch erweitert den Horizont. Die damalige Grenzöffnung für Flüchtlinge sei ein Symptom der Krise, aber nicht die Ursache. Der Nationalstaat verliere seine prägende Kraft. Technische Neuerungen, Supranationale Entwicklungen und europäische Entscheidungen schafften neue Wertigkeiten. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen drohe sozialer Abstieg. Die Angst davor nutze die AfD.
Der Linken gelinge das nicht mehr, weil sie sich den Neoliberalen angeschlossen habe. Mir fallen die jungen Demonstranten in der Hamburg Ottensener Fußgängerzone ein, die mit der Freizügigkeit des Kapitals das Recht der Menschen auf Migration begründeten. Ein Recht, da zu leben, wo man seine Wurzeln hat, sieht weder der moderne Kapitalismus noch das Programm der Linken vor. Die indischen Ureinwohner, die ihre Berge gegen die westlichen Aluminiumkonzerne verteidigen, hätten sich früher der Unterstützung durch Linke sicher sein können. In deren Augen verhalten sie sich heutzutage falsch. Sie sollten sich auf den Weg nach Deutschland machen.
Alle sollen kommen und bleiben dürfen, forderten Studierende der Universität Hamburg bei einem Poetry Slam gegen Rassismus. Ihre Texte, die sie in der St. Pauli-Kirche in Hamburg lasen, verrieten eine einfache Weltsicht: sie, die Antirassisten, sind die Guten. Alle anderen sind Rassisten, Egoisten, Nazis. Davon handelte eine Fabel, an deren Ende die guten und die geflohenen Tiere gemeinsam den bösen Einheimischen isolieren und so lange reizen, bis er platzt. Unter dem tosenden Applaus der Kirchenbesucher. Das ist die Kehrseite der multikulturellen Idylle. Wer oder was stört, muss weg. Zur Not mit Gewalt, wenn auch nur phantasiert.
Auch Thomas Ebermann begründet sein Engagement für Flüchtlinge nicht. Es bedarf keiner Begründung. Mobilität ist Trumpf, ob als Flüchtling, als Weltbürger oder als Tourist. Dem Bedürfnis nach Heimat, kann der in Hamburg Beheimatete nichts abgewinnen. Sein Buch zum Thema nennt er eine „Entwurzelung“. Darin untersucht er, was Linke zur Heimat geschrieben haben und weist allen nach, dass sie infiziert sind vom falschen Bewusstsein. Seine Heimat ist der Schmollwinkel.
Die Feuerzeuge schwenkende Menge beim Lindenbergkonzert zelebriert Heimatgefühle und sieht sich heimatlich aufgehoben in der guten alten Zeit der BRD. Heimat sei zentral in der aktuellen politischen Auseinandersetzung, stellt Frau Koppetsch fest. Die gesellschaftlichen Verlierer aller sozialen Schichten stellen sie sich als Staatsgebiet vor, dessen Grenze geschützt werden muss. Die kosmopolitischen Befürworter der Migration suchen nach Distinktion, grenzen sich kulturell ab. Das bleibt nicht auf Weltbilder beschränkt, sondern hat handfeste Folgen: innerhalb der Gesellschaft ziehen sie neue gesellschaftliche Grenzen, indem sie teure Wohnviertel und gute Schulen für sich reklamieren. Die Reichen sorgen für gesellschaftliche No-Go-Areas.
Interessanterweise bleibt das soziale Sicherungssystem an den Nationalstaat gebunden, schreibt Frau Koppetsch. Deshalb wollen die Flüchtlinge nach Deutschland. Sie kennen und verfolgen ihre Interessen. Die Linken scheinen keine zu haben. Wie lange eine sozialstaatliche Insel den Stürmen der Globalisierung trotzen kann, interessiert sie nicht. Der Sozialstaat ist ihnen herzlich egal. Ganz wie beinharten Neoliberalen, denen der Sozialstaat ein Anachronismus ist.
Wie weit sich Politiker von ihren Wählern entfernt haben, zeigte der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der in einer Bürgerversammlung die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel rechtfertigte. "Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen". Ein Raunen sei durch den Saal gegangen, Buhrufe, dann lauter Protest, berichtete die Süddeutsche Zeitung. Es war eine skandalöse Äußerung. Eine Provokation für Demokraten. Und es hätte der Auslöser einer Debatte über Heimat und den Umgang mit politischen Gegnern werden können. Die erstarkten Faschisten kamen einer Diskussion zuvor. Und haben sie vermutlich bis auf Weiteres tabuisiert. Denn sie machten Ernst und ermordeten Walter Lübcke. Mit ihren Gewalttaten haben sie das Land längst fest im Griff. Jetzt gilt: Wer sich öffentlich äußert, macht sich angreifbar. Für Mörder.
Anfang der 90er Jahre, nach den Progromen gegen Flüchtlinge in Rostock Lichtenhagen, sagte mir ein Mitglied des Hamburger Flüchtlingsrates, wenn durch den weiteren Zuzug armer Menschen die Sozialkassen leer würden, beschleunige das die Revolution. Es gab damals eine Theorie, die besagte, es müsse den Menschen richtig schlecht gehen, damit sie den Umsturz wagen. Der Fehler scheint zu sein, dass in Zeiten der Verunsicherung nicht die Linke, sondern die Rechte erstarkt.
Was wird derweil aus unseren Utopien? Wird wenigstens wahr, dass wir alle viel älter werden als unsere Vorfahren? Der Blick in den sich lichtenden Freundes- und Bekanntenkreis begründet Zweifel. Udo schreckt das nicht. Der Sänger will nicht älter werden, sondern ewig jung bleiben. Er lädt seine Fans bereits für seine Tournee 2046 ein: da wird er hundert. Eine „geile Udopie“. Trifft er doch den Nerv. Heiter weiter. Laut und gedankenlos. Gegen den Klimawandel protestieren und gleichzeitig so viel konsumieren wie noch nie. Bis es kracht.
Geschrieben 2020.
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