Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland forderte in zwei Jahren mehr als eine Million Tote. Journalisten der Wochenzeitung DIE ZEIT folgern: „Wenn man so will, sind das eine
Million Belege dafür, dass Pazifismus eine vergebliche Hoffnung ist, ein schöner Traum.“
Seltsam. Sind die Toten und Verwundeten nicht eher eine Millionen Beweise für das Scheitern der Waffengewalt? Zwei Jahre lang zieht sich dieser Krieg hin, zwei Jahre lang leiden Soldaten in den
Schützengräben. Sie töten und werden getötet. Ohne ein absehbares Ende. Eines ist sicher: die Zahl der Opfer, der getöteten und verstümmelten Soldaten und Zivilisten, wird weiter steigen.
Wie kommen die Journalisten zu dem Schluss, das offensichtliche Scheitern der militärischen Konfliktlösung beweise die Weltfremdheit des Pazifismus? Dahinter steckt die Annahme, gegen eine
aggressive Armee sei Gewaltlosigkeit chancenlos. Wenn so viele Menschen sterben müssen, obwohl sie bewaffnet sind, wie sollen sich dann unbewaffnete Menschen gegen militärische Gewalt behaupten?
Ist es in Wirklichkeit nicht so, dass ein zum Einsatz von Atombomben entschlossener Präsident Putin weder mit militärischen noch mit gewaltfreien Mitteln aufgehalten werden könnte?
Der Berliner Philosoph und Pazifist Olaf Müller hält die Soziale Verteidigung für ein geeignetes Konzept zur Verteidigung Deutschlands. Im ZEIT-Interview erklärt er, sie beruhe auf einer „Kombination aus Nettigkeit und
Kooperationsverweigerung und werde durch „gewitzte, friedliche Aktionen ergänzt.“
Wie er auf „Nettigkeit“ kommt, weiß nur er allein. Mir fallen eher „Entschlossenheit“, „Mut“ oder „Opferbereitschaft“ ein. Was Olaf Müller mit „gewitzten“ Aktionen meint, ist mir ebenso unklar.
Im Kern gehe es bei der sozialen Verteidigung darum, „den Angreifern nicht den geringsten Anlass zu geben, in mir das Böse zu sehen, das es angeblich zu vernichten gilt.“ Das klingt so, als könne
schon das geringste Anzeichen von Aggression oder Wut die Angreifer provozieren. Die soziale Verteidigung funktioniert demnach wie ein moralischer Appell an die Aggressoren. Die Verteidiger geben
sich in die Gewalt der Angreifer, heben die Hände und rufen: „seht her, von uns geht nichts Bedrohliches aus. Wir tun euch nichts.“
Selbst Gandhi, vielleicht der bekannteste
Verfechter gewaltfreier Aktionsmethoden, war nicht „nett“ zu seinen Gegnern. Indem er die englischen Kolonialherren an die Werte und Regeln ihrer Demokratie erinnerte, zwang er sie, sich daran zu
halten.
Der 40 Jahre alte Spielfilm von Richard Attenborough zeigt Szenen, die selbst als gespielte kaum auszuhalten sind. Die Kämpfer für die indische Unabhängigkeit ließen sich niederprügeln und
massenhaft erschießen. Dieses Erdulden gelingt vielleicht eher Menschen, die an Wiedergeburt glauben.
Aber Gandhi setzte nicht allein auf die moralische Karte. Mit dem von ihm angeführten Salzmarsch brach er symbolisch das Salzmonopol der Engländer. Indem er die Inder in den Dörfern aufforderte,
ihre Kleidung selbst zu nähen, bekämpfte er das Monopol der englischen Tuchindustrie. Gandhi wäre nicht Gandhi, wenn er die englischen Weber, die um ihre Jobs bangten, vergessen hätte. Gegen sie
richteten sich seine Aktionen nicht.
Das oft gebrauchte Etikett „passiver Widerstand“ führt in die Irre. Auch die sozialen Verteidiger müssen das Heft des Handelns in der Hand behalten. Auch für sie kann Angriff die beste
Verteidigung sein. Keinesfalls ist soziale Verteidigung so etwas wie eine weichgespülte Form des Krieges.
Ein Unterschied zwischen Bellizisten und Pazifisten besteht darin, dass letztere sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass gewaltfreie Verteidigung Opfer fordert.
Der Erfolg eines Kampfes hängt nicht nur von seinen Methoden ab. Die Aufständischen im Warschauer Ghetto waren chancenlos, weil sich niemand mit ihnen solidarisierte.
Wenn man Olaf Müller liest, bekommt man den Eindruck, die Bundesrepublik Deutschland ließe sich auf soziale
Verteidigung umrüsten. Aber soziale Verteidigung ist kein Ersatz für militärische Verteidigung. „Soziale Verteidigung ist die Verteidigung dessen, was man als Lebensweise bezeichnen könnte,“
heißt es in der Zeitschrift graswurzelrevolution*. Da, wo die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, haben die Bürger wenig zu verteidigen. Die soziale Verteidigung verteidigt die sozialen
und demokratischen Errungenschaften.
Soziale Verteidigung beginnt also nicht mit dem Tag einer Invasion. Die Basis der sozialen Verteidigung ist eine lebendige Demokratie: die Kooperation von Gewerkschaftern, Bürgerrechtlern,
Mitgliedern in Bürgervereinen, Mitarbeitern in Kliniken, Pflegeheimen, Kindergärten, Schulen, Initiativen der Zivilgesellschaft, Feuerwehren, Initiativen gegen Rüstung.
Nationen vereinen Herrscher und Beherrschte. Rüstungsunternehmen wie Rheinstahl profitieren vom Krieg. Die militärische Landesverteidigung ist nichts ohne die Rüstungsindustrie. Die soziale
Verteidigung müsste die Rüstungsindustrie blockieren und die Produktion von Waffen verhindern.
Die sozialen Verteidiger sind nicht mit den Militärs im eigenen Land solidarisch, sondern mit den Pazifisten des feindlichen Staates. Sie verwirklichen internationale Solidarität. Damit dürfte
klar sein: soziale Verteidigung ist kein Ersatz für die Landesverteidigung.
Was können Pazifisten tun? Sie müssten ukrainische Deserteure unterstützen. Zivile, demokratische Kräfte unterstützen, auch in Russland. Sie müssten mit dem Wiederaufbau der Ukraine beginnen, jetzt.
*graswurzelrevolution Sonderheft Soziale Verteidigung, Nr. 98/99, Hamburg 1985
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