Wir sind zu sieben Männern und einer Frau, alle Ende fünfzig. Eine Woche haben wir frei genommen, um einen Stuhl des amerikanischen Startischlers Sam Malouf nachzubauen.
Einer stellt sich als Bankdirektor vor, einer ist Therapeut, die anderen haben ein Handwerk gelernt; allen gemeinsam: das Faible für Holz. Ein
Graukopf berichtet stolz von dem drei Meter langen Eichenschrank, den er für sein neues Eigenheim gebaut hat. Er ist ein Jahr jünger als ich, von Beruf Schlosser. Gestandene Menschen. Und
ich?
Ich versuche, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Seit September 2013 weiß ich, was mich so lange quälte. Die Schmerzen im Arm, die Depressionen: Weder ich noch meine Ärzte hatten sie im Zusammenhang gesehen. Zum Glück traf ich endlich einen Spezialisten, der mir die Ursache meiner Beschwerden gleich ansah: Morbus Parkinson. Seitdem hilft mir ein Medikament durch den Alltag.
„Wenn Du Hilfe brauchst, sag Bescheid“, bietet meine Werkbanknachbarin an. Ich hatte von meiner Krankheit erzählt, um Irritationen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Meine Mimik wirkt oft
grimmig und ich kann nicht einschätzen, ob man mir die körperliche Unsicherheit, die ich empfinde, ansieht. Leicht gereizt erwidere ich: „Wirke ich so hilfsbedürftig?“
Meine anthroposophische Ärztin hatte mich gefragt, ob ich eine Vermutung hätte, warum mich ausgerechnet Parkinson erwischt hat. So sehr ich
auch nachdachte, ich endete immer bei Robert Gernhardt. Der hatte über seine Krebserkrankung gedichtet: „Warum ich? Wieso nicht“.
Die Anwesenheitsliste geht herum. Sonst setzte ich mich so, dass ich mich als letzter eintragen konnte. Niemand sollte mein Gekrakel sehen. Jetzt signiere ich fast mit dem gewohnten Schwung.
Vor sechs Jahren wurde meine Schrift fahriger. Ich schaffte es kaum, mir Notizen zu machen: Zu nervös, glaubte ich. Meine Stimme wurde leiser und verschwommener: Zu verschüchtert, eigentlich immer schon, kritisierte ich mich. Die Antriebslosigkeit wuchs: Nur mit Mühe kam ich aus dem Bett. Ich schob es auf ein Ausweichen vor Konflikten im Büro. Mein Geruchssinn ist seit vielen Jahren nicht mehr da, einer der Hinweise auf Parkinson, wie ich inzwischen weiß. Zuletzt, im Spätsommer 2013, kulminierten die Symptome. Wenn ich sprechen musste, geriet ich ins Stammeln, Schweiß brach aus. Ich nuschelte völlig unverständlich. Ich stieß an Türrahmen, weil ich ihnen nicht ausweichen konnte. Einmal rammte ich ungebremst eine mir entgegenkommende Frau. Sie hielt mich für verrückt. Ich mich auch.
Um mich herum fliegen die Späne, elektrische Raspeln kreischen. Die anderen gestalten schon die Sitzfläche. Ich säge noch Verbindungen. Parkinson verlangsamt. Zugleich macht er hektisch. Denn das Denken drängt: Du musst noch so viel schaffen, bevor bald nichts mehr geht. Ich säge, passe an, stemme nach, passe an: eine Winzigkeit muss noch weg. Ich stemme, passe wieder zu früh an.
Parkinson hat man nicht. Die Krankheit hat einen, schreibt Helmut Dubiel, ein Soziologieprofessor, der mit 46 Jahren erkrankte, in seinem
Erfahrungsbericht „Tief im Hirn“. Das liege nicht nur an ihrer Unheilbarkeit; besonders schwer wiege, dass die Krankheit die kommunikativen Kompetenzen schädige. Ich merkte das phasenweise: Es
kam vor, dass ich meine Arbeit als Medienreferent eines universitären Forschungsverbundes erledigte, als ginge sie mich nichts an. Wir planten die Auslobung eines Fotografiepreises. Bei einem
Gespräch mit potentiellen Geldgebern brachte ich kein Wort heraus. Als säße ich hinter einer gläsernen Wand. Meinem fassungslosen Kollegen blieb ich eine Erklärung schuldig. Ich hatte
keine.
In der Kaffeepause des Tischlerkurses kreisen die Gespräche um entscheidende Fragen: Handraspel oder Elektroschleifer? Die Konzentration auf mehrere Gesprächspartner überfordert mich. Trotz Medikament. Ich erkläre kurz: Parkinson verlange sein Recht. Die anderen nicken, ich studiere einen Werkzeugkatalog.
Lange wertete ich meine Beschwerden als Anzeichen von Schwäche und Versagen. Die Verspannungen im rechten Arm nahmen in belastenden
Situationen zu. Deshalb, und weil der Neurologe körperliche Ursachen ausgeschlossen hatte, glaubte ich, es seien Stressreaktionen. Je mehr die körperliche Missempfindung wuchs, desto schwerer
fiel es mir, den hohen Einsatz, den mein Beruf erforderte, zu leisten.
Am letzten Abend gehe ich in die Gaststätte, in der die Gruppe einen Tisch besetzt. Ich muss daran denken, wie ich bei einem früheren Kurs am Tisch der Teilnehmer vorbeigegangen war und mich allein hingesetzt hatte: Aus Angst, sprechen zu müssen. Lieber nahm ich es hin, als Sonderling zu gelten. Jetzt vertiefe ich mich in ein Gespräch mit einem erfolgreichen Autofachmann, der mit sechzig aussteigen und als Tischler arbeiten will: Krisen machen produktiv.
Mehr als ein Jahr nach der Diagnose meldet sich Trauer. Die Krankheit hat mir Jahre geraubt. Die verlorene Zeit bekomme ich nicht zurück. Ich war angestellt mit gutem Gehalt. Gesund hätte ich eine sichere Perspektive entwickeln können. Jetzt muss ich sehen, wie ich freischaffend Fuß fasse. Im Sommer las ich ein Interview mit Ottfried Fischer, der seit Jahren an Parkinson leidet und offen darüber spricht. Der einst erfolgreiche Kabarettist und Schauspieler wäre gern öfter im Fernsehen. Fit genug fühlt er sich. Die Leute, sagt er, mögen es, wenn man sein Leiden annimmt. Aber die Aufträge blieben weg.
Nach fünf Tagen sägen, schleifen und hobeln tragen alle einen Stuhl nach Hause. Ich packe Einzelteile ein: Als einziger bin ich nicht fertig geworden (es ist der Stuhl, der auf seine letzte Ölung wartet, Wochen später). Ein Trost bleibt: Das Leben hat mich wieder.
Im Dezember 2014